Ach wie gut, dass ich weiss, dass in China ein Sack Reis umgefallen ist
fagetti kommunikation • Januar, 2020
Kürzlich erzählte Romano Prodi in einem Interview, dass ihm mal geraten wurde, eloquenter aufzutreten, geschmeidiger zu sprechen und … einfach etwas mehr Marketing in seine Auftritte zu bringen und so seine Politik besser zu verkaufen. Sinngemäss hätte er geantwortet, dass er Professor sei, ihm die Inhalte ein Anliegen seien und er nicht aus seiner Haut könne. Gewählt wurde er trotzdem. Oder deswegen? Zur Erinnerung: Prodi, der Wirtschaftswissenschaftler, war unter anderem von 1996 bis 1998 und von 2006 bis 2008 italienischer Ministerpräsident, und von 1999 bis 2004 Präsident der Europäischen Kommission.
Natürlich kann man entgegenhalten, dass in denselben Dekaden auch Berlusconi gewählt wurde, einer, der Politik wie eine Fernsehshow aussehen liess. Und selbstverständlich besteht erfolgreiche Kommunikation immer auch darin, dass sie strategisch verstanden wird. Und dass sie die Botschaften und Inhalte zur richtigen Zeit passend an die richtigen Zielgruppen transportiert.
Dennoch passt Prodis Aussage ins neue Jahr. Politik muss echt sein, sie soll Menschen mit Themen und Lösungsvorschlägen überzeugen, heute vielleicht mehr denn je. 2019 wurden in der Schweiz 15 Initiativen angekündigt und acht Referenden lanciert. Parteien und Verbände sind aktiv und die Bevölkerung ist politisiert. Womit das genau zu tun hat, ist schwer zu sagen. Sind die Probleme und Sorgen der Menschen grösser? Oder führt auch der permanente Austausch über die vervielfachten Kommunikationskanäle in einem Land mit ausgeprägten demokratischen Rechten zu einer verstärkten Politisierung? Niemand muss mehr auf die Freitagabend-Arena warten, um zu hören und zu sehen, wie Politiker denken und reden, niemand muss mehr auf die Morgenzeitung warten, um breaking news zu erfahren. Gespräche über Politisches ist wieder kaffeepausentauglich. Fällt in China ein Sack Reis um, piepst sogleich unser Handy. Und es ist nicht bloss Herr Trump, der twittert. Die Schlagzeilen auf unserem Handy spiegeln auch nicht nur die grosse weite Welt, sondern genauso unsere Stadt, unsere Region, sie informieren auch über die aktuellen Aktionen in den Geschäften, über Freizeit- und Ausgehtipps etc.
Themen und Anliegen werden via individuelle Apps, YouTube, Twitter, Facebook und Instagram nonstop unter die Menschen gebracht und diese können kommentiert, beantwortet, weiterverbreitet oder auch ignoriert werden. Wir können jetzt darob die Verluderung der Kommunikation beklagen, das fehlende Niveau des Austauschs, die unmöglichen Hater oder die unzulässige Komplexitätsreduktionen der Populisten, den durchsichtigen Marketing-Sprech, die Flut an Informationen oder die bösen Filterblasen.
Wir können erklären, dass das die Menschen überfordert und sie medial und gebührenfinanziert an die Hand genommen werden müssten. Wir können uns aber auch darüber freuen, dass sich Menschen interessieren, auch wenn es mal nur für Katzenvideos (die immerhin für die tägliche Dosis Lachen sorgen) ist. Menschen sind neugierig, sie hören und schauen zu, lesen und reden mit. Sie konsumieren das, was mit ihrer Lebenswelt in Verbindung steht. Und sie sollen als mündige Bürger frei sein zu entscheiden, was sie lesen oder ansehen möchten und was nicht.
Dass diese Kommunikationskanäle ebenso Trolls und Verschwörungstheoretikern die Türe geöffnet haben, ist nicht einfach. Aber gerade diesen muss man etwas entgegenhalten. Aufklärung, Fakten und Informationen. Immer wieder. Dass dazu auch gehört, ab und an zu schweigen, versteht sich von selbst. Glücklicherweise bieten diese Kanäle uns allen die Chance, uns einzumischen und Verantwortung zu übernehmen. Und das Feld nicht jenen zu überlassen, die tatsächlich mit ihren Aktivitäten Regeln und Gesetze übertreten, Menschen und Tatsachen verleumden, oft bewusst Schlimmeres miteinkalkulieren.
Richard Gutjahr, Journalist aus München, wurde Opfer von Verschwörungstheoretikern. Er weiss, dass es sich Menschen oft sehr einfach machen, die Netz-Anonymität missbrauchen und die Wahrheit oft gar nicht wissen wollen. Kappte er anfänglich alle Verbindungen zur Netzwelt und versuchte, auch zum Schutz seiner Familie, sie totzuschweigen, gingen die abstrusen Verdächtigungen weiter, bis hinein in seinen Freundes- und Bekanntenkreis, so dass er irgendwann genug hatte und er begann, auch auf Rat erfahrener Leute hin, sich zu wehren. Einerseits juristisch, andererseits aber auch, indem er sich wieder aktiv in die Netzkommunikation einmischte. Mit Argumenten, Statements, Informationen. Immer ruhig und überlegt und sprachlich sorgfältig, anständig und respektvoll, faktenbasiert und der Wahrheit verpflichtet.